Welche Spuren hinterlässt Krieg – im Körper und im kollektiven Gedächtnis nachfolgender Generationen? In „What is War“ begegnen sich zwei Künstlerinnen, deren Geschichten sich auf unterschiedliche Weise mit demselben Krieg verbinden, in einem zutiefst persönlichen Duett: Die chinesische Choreografin Wen Hui, aufgewachsen während der Kulturrevolution, und die japanische Performerin Eiko Otake, Kind der Nachkriegszeit in Japan. Gemeinsam befragen sie die Spuren von Gewalt, die in Körper eingeschrieben sind – in ihren eigenen und denen vieler Anderer. Ausgehend von einer intensiven Recherche zu sogenannten „Trostfrauen“ – den von der japanischen Armee verschleppten und systematisch missbrauchten Frauen im Zweiten Weltkrieg – verweben sie Tanz, Video und Text zu einer bewegenden Reflexion über Erinnerung, Traumata und das Weiterwirken historischer Schuld. „What is War“ ist keine geschichtliche Rekonstruktion, sondern eine radikal gegenwärtige, poetische und politische Geste. Inmitten neuer Kriege und globaler Krisen erinnern Wen Hui und Eiko Otake daran, wie verletzlich – und wie wertvoll – jedes einzelne Leben ist.
What Is War
Wen Hui & Eiko Otake
What Is War
Wen Hui & Eiko Otake
Infos
- Dauer: ca. 70 Minuten
- Sprache: Englisch, Chinesisch, Japanisch mit deutscher Übertitelung
- 01.11. Künstlerinnengespräch im Anschluss
- Deutsche Erstaufführung
- Mo 03.11. Workshop The Self As Method
Vor dem Stück zeigen wir jeweils den Dokumentarfilm "No Rule is our Rule" von Wen Hui & Eiko Otake – kostenlos in Studio 1.
Barrierefreiheit
Barrierefreiheit des Spielorts
Beteiligte und Förderer
Gemeinsame Entwicklung und Performance: Wen Hui & Eiko Otake
Licht: David A. Ferri
Dramaturgie: Iris McCloughan
Originaldesign Spiegel: Carina Rockart
Konstruktion Spiegel: Paul Martin & Holly Jones
Spiegelbau Europa: Technische Abteilung des Künstler*innenhaus Mousonturm (Bühnenmeister: Stefan Matheke & Uwe Dittrich)
Übersetzung deutsche Übertitel: Karen Witthuhn/Transfiction
Übertitel: Melis Kara
Einrichtung Übertitel: Paula Ewert
Ein Auftragswerk von Walker Art Center, gemeinsam mit Jacob’s Pillow Dance Festival, CAP UCLA (Center for the Art of Performance) und das Colorado College Theater & Dance Department. Die Entwicklung des Stück wurde unterstützt durch die Foundation for the Arts' National Dance Project.
Das Tanzfestival Rhein-Main 2025, ein Projekt von Künstler*innenhaus Mousonturm und Hessischem Staatsballett, wird ermöglicht durch den Kulturfonds Frankfurt RheinMain und gefördert durch das Dezernat für Kultur und Wissenschaft der Stadt Frankfurt am Main, das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur, die Aventis Foundation und die Dr. Marschner-Stiftung.
Hinweise zum Inhalt und zu sensorischen Reizen
Das Stück thematisiert Krieg, Tod und Gewalt. Es enthält Nacktheit.
Biografien
Eiko Otake,
in Japan geboren und seit 1976 in New York City ansässig, ist eine interdiszip-linäre Künstlerin. Über vier Jahrzehnte arbeitete sie gemeinsam mit Koma Otake als Eiko & Koma und entwickelte mehr als 40 Performances, Installationen und Medienarbeiten. Das Duo war u. a. beim American Dance Festival, BAM Next Wave Festival, im MoMA und Whitney Museum zu sehen und wurde mit bedeutenden Preisen wie dem MacArthur Fellowship und dem Dance Magazine Award ausgezeichnet.
Seit 2014 verfolgt Eiko ihr Solo-Projekt „A Body in Places“, eine Serie ortsspezifischer Performances, die weltweit gezeigt wurde. In Zusammenarbeit mit dem Fotografen William Johnston entstand das Langzeitprojekt „A Body in Fukushima“ über die Landschaften der Nuklearkatastrophe von 2011, das international als Ausstellung, Film und Buch präsentiert wurde. Sie lehrt an mehreren US-Universitäten zu Themen wie Bewegung, Massen¬gewalt und nuklearen Fragen.
Wen Hui
zählt zu den wichtigsten Protagonist*innen des chinesischen zeitgenössischen Tanzes und arbeitet zudem als Dokumentarfilmerin und Installationskünstlerin. Seit über 30 Jahren nutzt sie Tanztheater als künstlerische Forschungsmethode um sozialen Wandel und Körpergedächtnis künstlerisch zu untersuchen. 1994 gründete sie in Peking das Living Dance Studio, das erste unabhängige Tanztheaterkollektiv Chinas, sowie später die Caochangdi Workstation mit internationalen Austauschprogrammen, Festivals und Förderformaten.
Ihre Arbeiten wurden weltweit gezeigt, darunter beim Walker Art Center, auf der Biennale Venedig, beim Festival d’Automne in Paris und der Ruhrtriennale. Zu ihren jüngsten Projekten zählt „New Report on Giving Birth“ (2023), das international tourt. Für ihre künstlerische Arbeit erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter den ZKB Patronage Prize und 2021 die Goethe-Medaille der Bundesrepublik Deutschland. Seit 2022 lebt sie in Frankfurt am Main und ist mit dem Mousonturm assoziiert.
Hintergrund und mehr Infos
DER ZWEITE JAPANISCH-CHINESISCHE KRIEG (1937–1945) – KURZÜBERBLICK
Der Zweite Japanisch-Chinesische Krieg begann am 7. Juli 1937 mit dem Zwischenfall an der Marco-Polo-Brücke und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Kapitulation Japans am 9. September 1945 beendet. Japan verfolgte eine aggressive Expansionspolitik und besetzte große Teile Chinas, das durch den inneren Konflikt zwischen Nationalisten (Guomindang) und Kommunisten militärisch geschwächt war. Die frühen Kriegsjahre waren geprägt von massiver Gewalt gegen die Zivilbevölkerung. Das bekannteste Kriegsverbrechen ist das Massaker von Nanking, bei dem Hunderttausende Menschen ermordet wurden.
Ab 1941 wurde der Konflikt zum Teil des globalen Krieges; die USA und andere Alliierte unterstützten China militärisch und wirtschaftlich. Mit sowjetischem Eingreifen in der Mandschurei und den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki 1945 brach die japanische Kriegsführung zusammen. Der Krieg forderte in China mehr als 10 Millionen zivile Opfer und prägte das Land nachhaltig. Die Erinnerung an die Gräueltaten sowie eine bis heute umstrittene Vergangenheitsbewältigung in Japan belasten weiterhin das Verhältnis zwischen beiden Staaten.
FRAUENSCHICKSALE IM ZWEITEN JAPANISCH-CHINESISCHEN KRIEG
Während des Kriegs entführte und versklavte Japan bis zu 200.000 Frauen und Mädchen aus China, Korea, den Philippinen und anderen Länder und zwang sie zur Zwangsprostitution. Auch Frauen aus Japan wurden zur Prostitution gezwungen. Die genauen Opferzahlen sind bis heute nicht benannt. Diese Frauen werden euphemistisch als „Trostfrauen“ (Comfort Women) bezeichnet, da sie dazu gezwungen wurden, japanischen Soldaten an der Front „Trost“ zu spenden und so ihre Kampfmoral zu steigern. Die Frauen wurden aus ihren Heimatorten verschleppt und in sogenannten „Troststationen“ bzw. „Trosthäusern“, Bordellen des Militärs, über Jahre körperlich und seelisch missbraucht. Zum Kriegsende wurden viele
Dokumente, die diese Kriegsverbrechen bezeugten, vernichtet. Zahlreiche Frauen wurden ermordet. Viele Frauen, die überlebten, schwiegen aus Scham oder sie wurden in ihren Heimatgemeinschaften stigmatisiert. Trotz des großen Engagements von Aktivist*innen hat die japanische Regierung bis heute die Kriegsverbrechen nicht komplett aufgearbeitet und anerkannt und sich bei den Opfern unmittelbar entschuldigt. „The Women’s International War Crimes Tribunal On Japan’s Military Sexual Slavery”, das im Dezember 2000 in Tokio stattfand, war eine zivilgesellschaftliche Initiative, um die japanischen Verbrechen aufzuarbeiten. Der abschließende Bericht wurde in Den Haag und in Tokio veröffentlicht.
DREI FRAGEN AN WEN HUI UND EIKO OTAKE
WAS HAT EUCH SO BEWEGT, DASS EUER STÜCK „WHAT IS WAR“ UNBEDINGT ENTSTEHEN MUSSTE?
Wen Hui: Als Eiko 2020 nach Peking kam und im Inside Out Museum einen Vortrag hielt, entschuldigte sie sich zu Beginn dafür, wie Japan in den 1930er Jahren China kolonisiert und Krieg gebracht hat. Sie erzählte auch, dass ihr Vater nicht beim Militär diente, weil er keine Menschen töten wollte – er stellte sich krank. Das hat mich sehr berührt. Ich begann intensiver über Krieg nachzudenken. Im Gespräch mit Eiko wurde mir klar, dass Krieg nicht einfach ein großes Thema fernab meines Lebens ist. Ich spürte, wie persönlich Krieg Menschen betrifft. Ich fragte meine Mutter – und erfuhr, dass meine Großmutter bei einem japanischen Luftangriff auf Kunming, meine Heimatstadt, ums Leben kam. Dadurch wurde mir bewusst, dass auch ich eine direkte Verbindung zu Krieg habe. Ich begann zu hinterfragen, was Krieg für mich und für andere bedeutet.
Eiko Otake: Als ich am 11. September 2001 in New York war, hat mich das zutiefst erschüttert. Ich erinnerte mich an viele der Geschichten über den Zweiten Weltkrieg, die ich von meinen Eltern, Lehrer*innen und älteren Freundinnen gehört hatte. Mit 49 begann ich zu erforschen, wie Künstler*innen sich mit Krieg auseinandergesetzt haben – besonders mit den Atombombenabwürfen. Ich dachte viel darüber nach, wie massive Gewalt die Menschlichkeit herausfordert und Zeit und Raum aus dem Gleichgewicht bringt.
Als ich im Januar 2020 in China war, war der Besuch des Museums zum Massaker von Nanjing und einer sogenannten „Troststation“ gemeinsam mit Wen Hui für mich eine sehr emotionale Erfahrung. Wir sprachen weiter über diese Geschichte – und darüber, wie wir die Entwicklungen in vielen Teilen der Welt heute erleben.
WELCHE ROLLE SPIELT DAS DIESJÄHRIGE FESTIVALMOTTO „NOW OR NEVER“ FÜR DICH UND DEINE KÜNSTLERISCHE ARBEIT?
Wen Hui: Eiko ist 73, ich bin 65. Wir wissen nicht, wie lange wir noch schaffen und auftreten können. Obwohl wir uns schon lange kennen, haben wir erst 2020 eine entscheidende Zeit gemeinsam in China verbracht – und erhielten vom Walker Art Center den Auftrag für ein abendfüllendes Stück. Wir zögerten keinen Moment, diese Chance jetzt zu nutzen.
Eiko Otake: Heute sehen wir, wie Errungenschaften, für die Menschen lange gekämpft haben – Gleichberechtigung, Demokratie, Menschenrechte – bedroht und zerstört werden. Das macht uns fassungslos. Während wir an diesem Stück arbeiteten, hörten wir von vielen Menschen persönliche Geschichten über Krieg und Gewalt – aber auch von ihrem starken Wunsch nach Frieden. Wir müssen dafür sorgen, dass Krieg nicht unser Tun bestimmt. Krieg tötet Menschen. Krieg zerstört die Menschlichkeit. Wir müssen weitere Gewalt jetzt stoppen. Sonst wird sie uns alle überrollen.
WELCHE FRAGE WÜRDEST DU EINEM ZUSCHAUER/ EINER ZUSCHAUERIN DEINES STÜCKES GERNE STELLEN?
Eiko Otake und Wen Hui: Warum gibt es 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer noch Kriege?
WEN HUIS BRIEF VOM 27. JANUAR 2025
Liebe Eriko Ikeda,
Als Eiko mich in Peking besuchte, sagte sie, sie wolle das Nanjing-Massaker- Museum besuchen. Das überraschte mich, da ich mir – obwohl ich selbst nie dort gewesen war – vorstellen konnte, dass es für eine japanische Person
ein schwieriger Ort wäre. Ihr Wunsch berührte mich und wir gingen gemeinsam dorthin.
Am Standort der sogenannten -„Troststation“ in Lijixiang erzählte Eiko mir, dass Sie seit der Schulzeit ihre Freundin sind und dass Sie das Internationale Frauentribunal zu Japans militärischer sexueller Versklavung organisiert haben. Eiko zeigte mir außerdem viele DVDs, die Sie produziert, gefilmt und geschnitten haben. Wir haben sie oft angeschaut.
Uns wurde bewusst, dass viele Menschen über Krieg sprechen, aber deutlich weniger über das Leid, das Frauen im Krieg zugefügt wird. Ich möchte dem Publikum die Geschichte der „Trostfrauen“ näherbringen, indem ich ein Interview aus Ihrem Dokumentarfilm einbeziehe. Wenn Sie dies jedoch nicht für angemessen halten, werden wir es nicht tun. Bitte geben Sie uns einen Hinweis. Als Chinesin verstehe ich, wie mutig diese Frauen im hohen Alter sind, ihre Geschichten öffentlich zu machen und Gerechtigkeit zu suchen.
Ich empfinde tiefen Respekt für sie und Ihre Arbeit. Ich freue mich darauf, Sie und Ihre Kolleg*innen kennenzulernen.
Wen Hui
Weitere Informationen zu „Trosthäusern“ und „Trostfrauen“ finden Sie bei: Women’s Active Museum on War and Peace