Mit Tourette Theater zu machen, scheint auf den ersten Blick unmöglich: Kein Text ist sicher, keine Bewegung wiederholbar. Die Bühnentechnik muss in Sicherheit gebracht, spezielle Hotelzimmer gebucht werden. Was nicht Tourette-kompatibel ist, wird geändert. Und diese Änderungen bilden ein Material, formen irgendwann einen Text, einen Anfang und einen Schluss. Die Inszenierung „Chinchilla Arschloch, waswas“ wurde 2020 zum Berliner Theatertreffen eingeladen und das gleichnamige Hörspiel 2019 mit dem Deutschen Hörspielpreis der ARD ausgezeichnet. Von diesem Material ausgehend entstand ein Spin-off über die Angst vor dem Kontrollverlust, Verbalattacken, Parlament-Tourette und die Frage, was eigentlich Normalität ist. Christian Hempel und Bijan Kaffenberger, die in der Uraufführung 2019 erstmals zusammen auf einer Theaterbühne standen, machen ihre Tourette-Erfahrungen wieder zum Ausgangspunkt für eine intensive Begegnung mit dem Publikum.
Chinchilla Spin-off, waswas
Helgard Haug (Rimini Protokoll)
Chinchilla Spin-off, waswas
Helgard Haug (Rimini Protokoll)
Infos
- Dauer: 60 Min.
- Alter: empfohlen ab 10 Jahren
- Sprache: Deutsch
Barrierefreiheit
Barrierefreiheit der Veranstaltung
Relaxed Performance
Relaxed Performances richten sich an alle, die sich in einer aufgelockerten und sensorisch entspannten Atmosphäre wohler fühlen. Wer möchte, kann während der Show kommen und gehen. Stille ist nicht obligatorisch.
Early Boarding
Ein Early Boarding findet 15 Minuten vor Vorstellungsbeginn statt.
Rückzugsort
Rückzugsort in Studio 2, 1. OG. Dieser Ort ist für alle Menschen offen, die sich für einen Moment aus dem Trubel im Foyer oder der Veranstaltung zurückziehen möchten. Es gibt verschiedene Sitz- und Liegemöglichkeiten, Kopfhörer und sensorische Materialien, die zur Entspannung genutzt werden können.
Beteiligte und Förderer
Mit: Christian Hempel unterstützt durch Stefan Schliephake, Bijan Kaffenberger
Idee, Text und Regie: Helgard Haug
Technische Leitung, Video, Licht: Marc Jungreithmeier
Produktionsleitung: Lara Fischer
„Chinchilla Spin-off, waswas“ ist eine Koproduktion von TD Berlin im Rahmen des Monologfestival 2023. Gefördert durch die vierjährige Festivalförderung der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt Berlin.
Das Spinn-Off basiert auf dem Stück „Chinchilla Arschloch, waswas“, eine Produktion von Künstler*innenhaus Mousonturm, Schauspiel Frankfurt und Rimini Apparat. Koproduziert vom Westdeutschen Rundfunk und HAU Hebbel am Ufer Berlin. Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen des Bündnisses internationaler Produktionshäuser, durch den Kulturfonds Frankfurt RheinMain im Rahmen des Schwerpunkts „Erzählung.Macht.Identität“ und durch die Adolf und Luisa Haeuser-Stiftung für Kunst und Kulturpflege im Rahmen der Projektreihe UNLIMITED II zur Förderung exemplarischer Positionen zeitgenössischer Performing Arts.
Biografie
Helgard Haug ist Autorin und Regisseurin und arbeitet in verschiedenen Konstellationen unter dem Label Rimini Protokoll. Auf der Bühne, im Stadtraum und für das Radio entwickelt sie Stücke, die neue Perspektiven auf die Wirklichkeit eröffnen. Produktionen, die in ihrer Regie und Ko-Regie entstanden, wurden mehrfach zum Berliner Theatertreffen eingeladen und erhielten eine Reihe renommierter Preise, darunter den Mülheimer Dramatikerpreis, den Sonderpreis des Deutschen Theaterpreises DER FAUST und den Hörspielpreis der Kriegsblinden. Für ihr Gesamtwerk wurden Rimini Protokoll mit dem Silbernen Löwen der 41. Theaterbiennale Venedig ausgezeichnet. Mit Tourette befasste sich Helgard Haug das erste Mal im Rahmen der Recherchen für das Theaterstück „brain projects“, nachdem sie Christian Hempel begegnet war. Nach einem kurzen Videoauftritt von Hempel in „brain projects“ entwickelten Haug und der Journalist Thilo Guschas zusammen mit ihm das Hörspiel „Chinchilla Arschloch, waswas“, das im Dezember 2018 vom WDR urgesendet und 2019 mit dem Deutschen Hörspielpreis der ARD ausgezeichnet wurde. Das gleichnamige Bühnenstück kam auf Einladung des Künstler*innenhaus Mousonturm und des Schauspiel Frankfurt im Bockenheimer Depot im April 2019 zur Uraufführung und wurde 2020 zum Berliner Theatertreffen eingeladen.
Christian Hempel lebt und arbeitet in Lüneburg und ist Vater einer Tochter. Er ist als Mediengestalter tätig und initiierte die Online-Plattform www.tourette.de, die umfangreiche Informationen zum Thema Tourette bündelt und Menschen im gesamten Bundesgebiet miteinander vernetzt. Mit Helgard Haug arbeitete er bereits im Rahmen des Hörspiels »Chinchilla Arschloch, waswas« und der gleichnamigen Inszenierung zusammen.
Bijan Kaffenberger, geboren 1989, ist Mitglied des Hessischen Landtags. 2011 begann er, sich kommunalpolitisch zu engagieren. Nach seinem Studium der Volkswirtschaftslehre an der Goethe-Universität Frankfurt arbeitete er im Thüringer Wirtschaftsministerium. Seit 2019 ist er Abgeordneter im Hessischen Landtag. Er ist Schatzmeister der SPD Hessen, Vorsitzender der SPD Darmstadt und Co-Vorsitzender des Forums für Kunst und Kultur der Sozialdemokratie in Hessen e.V. Für die SPD-Fraktion im Landtag ist er Sprecher für Digitales und Innovation sowie für Wissenschaft und Kultur. Zudem ist er Mitglied im Verwaltungsrat des Staatstheaters Darmstadt und im Beirat des Mousonturm.
3 Fragen an Helgard Haug
Was war deine Motivation ein ‚Spin-Off‘ zu eurem 2019er-Blockbuster „Chinchilla Arschloch, waswas“ zu erarbeiten?
Nach der Inszenierung „Chinchilla Arschloch, waswas“, die 2019 hier in Frankfurt (in einer Kooperation vom Mousonturm mit dem Schauspiel Frankfurt) entstand, sind wir erst einmal viel mit dem Stück gereist und die Inszenierung hat viel Aufmerksamkeit erfahren. Aber dann sind wir damit in der Pandemie ins Kiesbett gefahren. Alle Gastspielanfragen wurden abgesagt. Theater ist sehr launisch und kurzatmig, selbst gefeierte Produktionen sind dann schwer zu reanimieren – vor allem, wenn sie aufwendig sind und dadurch Kosten und Mehrarbeit generieren. Der Protagonist Christian Hempel hat dann irgendwann angefangen, von einem ‚Spin-Off‘ zu sprechen: Was wäre also, wenn wir die Inszenierung auf ihren Kern reduzieren? Was, wenn wir in dem Spin-Off die Inszenierung zitieren, aber in einem sehr reduzierten Setting und ohne die anderen drei Protagonist*innen? Zeitgleich kam eine Anfrage vom Monologfestival in Berlin, ob ich für ihr Festival eine Idee hätte, und so haben wir die Köpfe noch mal zusammengesteckt und überlegt, wie dieses Spin-Off aussehen könnte. Ich freue mich sehr, dass bei den Aufführungen hier in Frankfurt auch Bijan wieder dabei sein wird. Wir reichern also wieder an!
Wie würdest du deine Herangehensweise an dieses Projekt beschreiben bzw. wie hast du inszeniert?
Es geht in dem Stück darum, die Grenzen auszuloten – also auch in der Inszenierung. Alles fing an, weil Christian sagte, dass er nicht auf einer Bühne stehen könne. Er zählte auf, warum das mit ‚Tourette-Syndrom‘ nicht gehen würde und es hat mich gereizt, das zu widerlegen. Dann habe ich zwei weitere Personen eingeladen, die auch Tourette haben, mitzumachen. Sie haben es jeweils in einer anderen Form und sie gehen auch anders damit um. Also geht es auch um diese Frage und die Spannung zwischen diesen drei Personen.
Barbara ist als Musikerin auf der Bühne. Anfangs dachte ich auch, dass ich jemanden brauche, der/die den Abend zusammenhält und reagieren kann, wenn er total auseinanderfällt, denn wir haben es allen offengehalten, dass sie die Bühne auch verlassen können, falls sie die Situation zu sehr stresst. Aber nach und nach hat sich gezeigt, dass das Skript und die festen Abläufe der Inszenierung dazu führen, dass das Tourette sich mehr und mehr beruhigt und das Stück gar nicht zerfetzt wird. Jetzt haben wir die Situation, dass wir vom Tourette erzählen, aber alles meist ganz entspannt ist. Das ändert sich schlagartig, wenn neue Player dazukommen oder wir vier Schritte raus aus dem Theater machen.
Wie würdest du für das Publikum dein Verhältnis zum Begriff der ‚Normalität‘ beschreiben?
Gibt es ‚Normalität‘? Die interessiert mich auf jeden Fall nicht. Mich interessieren Regeln und deren Brüche oder die Konfrontation damit. Mich interessiert, wenn etwas scheinbar ‚nicht geht‘ oder ‚nicht sein darf‘. Und mich interessiert, dass Theater ein Ermöglichungsraum ist: Hier geht eigentlich alles, wenn wir uns darauf verständigen. Wir können die Schwerkraft außer Kraft setzen, in der Zeit reisen, fliegen, Tote auferstehen lassen, uns miteinander in Beziehung setzen und uns eben auch über Regeln, Rituale und Codes hinwegsetzen, sie neu miteinander ent- und wieder verwerfen. Wir können vor allem eine Nähe suchen und uns diese zumuten.
Hinweise zum Inhalt und zu sensorischen Reizen
Visuelle Reize
- Die Bühne ist gleichmäßig und konstant ausgeleuchtet.
- Lichtwechsel sind sanft (z.B. Übergang zu Dunkelheit bei Video).
- Verschiedene Videomitschnitte von Fernsehsendung und Theateraufführung auf zwei Projektionsflächen nebeneinander
-
Kapitel 14: Video in schwarz-weiß mit flackernden Lichtern: Der Performer gibt vorab Hinweise und damit die Möglichkeit, den Saal zu verlassen oder die Augen zu bedecken. Für 3 Minuten geht das Saallicht aus und als einzige Lichtquelle läuft Schrift per Video-Projektion in Schwarz-Weiß mit Flackern im Rhythmus der Ticks.
Akustische Reize
- Christian Hempel nutzt ein Mikrofon/Headset
- Verzerrte Schreie, laute Ausrufe sowie Szenenapplaus und spontanes Lachen können unvermittelt einsetzen
- Die ersten 15 Minuten gibt es keine Hintergrundmusik, nur gesprochene Sprache.
- Einsatz von tiefen Motorengeräuschen. Elektronische Musik die sich in Tempo und Intensität steigert (wie bei einem Computerspiel) und Popmusik
- In einer Szene gibt es einen Ausschnitt aus einem Hörspiel mit elektronischer Tonfläche, überlagert von Stimmen, teilweise verzerrt
Olfaktorische Reize (Geruch)
- Ein leichter salziger Essensgeruch kann am Ende der Show an manchen Plätzen wahrgenommen werden.
Interaktion
- Direkter Kontakt in Form von direkten Fragen und körperliche Nähe in der ersten Reihe sind möglich.
- Es gibt direkte und rhetorische Fragen an das Publikum.
- Antworten auf direkte Fragen sind willkommen, aber nicht obligatorisch.
- Angebote zur Teilnahme an einem Spiel ("wer tickt zuerst?") oder der Bestellung/Zubereitung von Essen sind ernst gemeint.
Content Notes
Das Stück erwähnt ableistische Situationen und einige Vokale Tics des Performers können Schimpfwörter und Beleidigungen enthalten
Relaxed Performance
Alle Aufführungen von „Chinchilla Spin-off, was was“ sind „relaxed“.
Das bedeutet Folgendes:
- Wir stellen Informationen bereit: zu den Inhalten und zu den sensorischen Reizen einer Produktion. Diese Hinweise verstehen wir als Service für mehr Zugänglichkeit, Selbstbestimmung und Komfort.
- Sie haben freie Platzwahl (auch auf den Sitzsäcken).
- Sollten Sie vermeiden wollen, geblendet zu werden, setzen Sie sich in eine der ersten beiden Stuhlreihen.
- Sie können während der Vorstellung den Saal für eine Pause verlassen und wiederkommen, wann Sie möchten - oder auch gehen und nicht wiederkommen.
- Bewegung im Raum und Geräusche während der Show sind kein Problem.
- Vor der Aufführung steht im Foyer eine Kiste mit StimToys. Alles davon kann vor der Vorstellung ausgeliehen und nach der Vorstellung wieder zurückgegeben werden. Gerne können auch eigene StimToys mitgebracht werden
- Es gibt ein Early Boarding, einen frühzeitigen Einlass um 19:45 Uhr, bei dem die Ansprechperson Leander Ripchinsky auch gerne Fragen beantwortet zu Licht, Ton, Video Gestaltung und Momenten der Publikums Interaktion.