„Lullaby Experience“ ist ein partizipatives Projekt des Komponisten Pascal Dusapin, das allen – Kindern und Erwachsenen – auf der ganzen Welt offensteht. „Jeder von uns hat tief im Innersten ein Lied, das seine Kindheit definiert. Oft ist dieses Lied von Zeit und Erinnerung entstellt. Wir laden ein, diese Erinnerung zu singen, zu flüstern“, so der Komponist. Mittels einer App (www.lullaby-experience.eu) werden die Lieder weltweit aufgenommen. Die gesammelten Aufnahmen werden von Pascal Dusapin für die musikalische Kreation „Lullaby Experience“ genutzt: Transformiert und zusammengesetzt bilden sie ein Klangporträt jeder Stadt, in der das Werk in Zusammenarbeit mit dem Regisseur Claus Guth, dem Ensemble Modern und dem Pariser Forschungsinstitut für Akustik/Musik IRCAM präsentiert werden wird.
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Die Live-Acts in der Installation finden um 15.30 Uhr, 17 Uhr, 18.30 Uhr & 20 Uhr statt. Einlass jeweils 30 Minuten vorher.
Ein Werkauftrag im Rahmen der Frankfurter Positionen 2019
Idee, Komposition: Pascal Dusapin
Regie: Claus Guth
Klangregie: Thierry Coduys
Musik: Ensemble Modern
Mitarbeit Musikinformatik IRCAM (Université de La Rochelle / IRCAM Musical Representations Team IRCAM-STMS): Jérôme Nika (IRCAM)
Eine Produktion von Ensemble Modern, IRCAM und Mousonturm für die Frankfurter Positionen. IRCAM, als Teil des DYCI2 Projekts, wird gefördert durch die French National Research Agency (ANR). Die Frankfurter Positionen sind eine Initiative der BHF BANK Stiftung. Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes. Das Netzwerk der Frankfurter Positionen 2019: BHF-BANK-Stiftung, Deutsches Theater Berlin, Ensemble Modern, Frankfurt LAB, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main, Institut für Sozialforschung (IfS), Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique (Ircam), Kaserne Basel, Künstlerhaus Mousonturm, MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main, Schauspiel Frankfurt, Schauspiel Stuttgart, S. Fischer Verlag, Städelschule/Portikus, Verlag der Autoren, Medienpartner hr2-kultur.
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"Sing mir das Lied vom Kind"
Der Komponist Pascal Dusapin sammelt Wiegenlieder aus der ganzen Welt und entwickelt daraus gemeinsam mit dem Regisseur Claus Guth und dem Ensemble Modern die Konzert-Installation „Lullaby Experience“ für die Frankfurter Positionen 2019.
VON STEFAN SCHICKHAUS
Pascal Dusapin wird zum Hypnotiseur. Er möchte, dass sein Gegenüber sich zurückversetzt in seine Kindheit. Dass tief im Unterbewussten nach einer Melodie geforscht wird, einem Lied, das prägend war für diese Person. „Jeder von uns besitzt, tief in sich selbst eingeschrieben, eine oder mehrere Melodien dieser Art“, davon geht Dusapin aus. „Manchmal ist es eine bekannte Melodie, aber das spielt keine Rolle, denn nur die musikalische Erinnerung, die in uns selbst steckt, zählt.“ Und dann hebt er an zu einer Beschwörungsformel: „Stell dir vor, ich bitte dich, diese Erinnerung zu singen. Langsam. Mit einer sehr leisen Stimme. Du bist an einem ziemlich entspannten Ort, sehr ruhig. Es kann zu Hause sein. Du hast alle Zeit, die du brauchst. Und dann singst du. Fast nichts. Kaum etwas. Ich bitte dich, mit schwacher Stimme zu singen, fast so, als ob du versuchen würdest, das wiederherzustellen, was du als Kind gehört hast. Als ob du diese Süße und die Melancholie dieses Kindheitsmoments hören wolltest. Es ist wie ein Flüstern, denn ich möchte darauf bestehen, dass du so melodiös und ruhig wie möglich singst. Aber in Wahrheit ist das Einzige, was zählt, wie man singen will. Wenn du möchtest, kannst du sogar schreien.“ In Wirklichkeit hat Pascal Dusapin, der 1955 geborene französische Komponist, gar kein direktes Gegenüber, und er schwingt auch kein Pendel oder ähnliches. Vielmehr kennt er die meisten Menschen mitunter gar nicht, die er auffordert, ein Kinder- oder Schlaflied zu singen. Er sammelt die Lieder mit Hilfe einer Smartphone-App, jeder kann sich daran beteiligen, weltweit. „Lullaby Experience“ heißt das Projekt, für das er die Melodien zusammenstellt und das er am 2. und 3. Februar jeweils sechs Stunden lang im Frankfurt LAB im Rahmen der Frankfurter Positionen präsentiert. Kinderlieder, Schlaflieder, Lullabies: Schon lange spuken sie durch Dusapins Kopf. Oder wie er es beschreibt: „Wie ein Schwarm aus Vögeln flogen sie herum, und ich fragte mich oft, wie man einen Raum schafft, in dem jeder sein kleines Lied singen kann.“ 2006 wurde der Vogelschwarm dann ganz konkret aufgescheucht, als das Blaffer Art Museum in Houston ihm ein Angebot für ein Projekt machte, das aber aus administrativen Gründen nicht umgesetzt werden konnte, so der Komponist. Es mussten wieder zwölf Jahre vergehen, bis nun dem Kinderlied eine Bühne bereitet wird. Was man bei einem Komponisten wie Pascal Dusapin – der bekannt ist für seine mathematisch durchdachte, stets mehr vom Kopf als vom Bauch gesteuerte Musik – so erst einmal gar nicht vermutet hätte: Das kindliche Lied, die einfache Melodie ist für ihn nicht nur die Keimzelle, vielmehr das schlagende Herz der Musik. Dieses Herz aber hat es schwer in der zeitgenössischen Musik, melodisch zu komponieren galt und gilt ja in bestimmten Kreisen als verpönt. „Man verstand unter der Melodie etwas Nostalgisches“, weiß Dusapin, wobei er „diese Haltung schon immer dumm fand – nicht zuletzt, weil ich schon immer Melodien sehr liebte. Ich weiß nicht, warum eine Melodie nichts Modernes sein kann, und ich sehe in Bezug auf ein Kinderlied auch überhaupt nichts Altertümliches oder Reaktionäres. Es ist wirklich für mich die Essenz selbst der Idee von Musik, der emotionale Kern der Aktivität, die uns zur Musik führt.“ Die Melodie selbst ist also das eine zu überwindende Tabu bei diesem Projekt – das Singen der Melodie ist das andere. „Wenn ich erzähle, dass ich gerade ein Projekt zum Thema Lullaby mache und dafür eine App habe und zum Beispiel am Telefon sage, ‚ach sing doch mal was‘, dann kommt als erste Reaktion immer eine Schüchternheit, ein leichtes Schamgefühl. Ich dachte ja, Gesang gehört zu jedem, aber das stimmt nicht. Es gibt viele Menschen, die nicht singen und auch keine Erinnerungen an Gesang in ihrer Kindheit haben. Das hängt von den Generationen ab. Zum Beispiel meine Generation reagiert im Allgemeinen sehr schnell. Die jüngeren Leute, auch meine eigenen Enkel, konnten nicht sofort auf meine Aufforderung antworten. Sie brauchten Zeit, mussten nachdenken. Das kommt nicht sofort, nicht unmittelbar.“ Diese Schüchternheit wird nun auch Teil von „Lullaby Experience“, denn Pascal Dusapin hat all diese Reaktionen, all das ‚Äh‘ und ‚Hihi‘ und ‚Nein nein nein‘, also das „psychologische Drumherum“, bevor das eigentliche Lied beginnt, bei den Aufnahmen behalten und mit verarbeitet. Das Zögern, das Lachen, das Sichwinden gehört zum Material und wird so auch zu hören sein im Frankfurt LAB. Doch was genau wird sich dort abspielen? Pascal Dusapins „Lullaby Experience“ ist eine Klanginstallation, technisch realisiert durch ein Computerprogramm, das am Pariser IRCAM, dem Forschungsinstitut für Akustik im Centre Pompidou, für ihn entwickelt wurde und im Frankfurt LAB durch 64 Lautsprecher abgebildet wird. Dazu werden für täglich vier 45-minütige Einheiten rund zehn Musiker des Ensemble Modern mit der Installation interagieren. Sie sind Besucher in diesem Echoraum, ihre Musik wird sich mit der Liederwolke mischen. Und schließlich gibt es als dritte Ebene das, was Pascal Dusapin „eine Art Dramaturgie des Raums“ nennt. Diese Aufgabe wird auf Claus Guth zukommen, den Musiktheaterregisseur, der in Frankfurt zuletzt die Operette „Die lustige Witwe“ voller Witz und handwerklicher Perfektion inszeniert hat. Eine „Inszenierung im eigentlichen Sinn“ erwartet Dusapin hier aber nicht, „sondern eher die Arbeit eines Bildhauers. Er muss etwas ganz Neues erfinden, vielleicht etwas Plastisches.“ Claus Guth übrigens hat eine ganz eigene Liederinnerung, eine höchst ungewöhnliche: Von Franz Schubert „Der Wegweiser“ aus der „Winterreise“, nicht eben das entspannte Lullaby. Seinem kleinen Sohn aber singt er dann doch lieber „Was müssen das für Bäume sein“ vor, wenn auch in immer wieder neuen Textvariationen, weil er sich die originalen Strophen nicht merken kann. Das sei gleichermaßen „peinlich und rätselhaft“, sagt der Regisseur. Peinlichkeiten allerdings sind ja ausdrücklich zugelassen in Pascal Dusapins „Lullaby Experience“, sie gehören fest zum Material.