Im Jahr 1971 lädt das niederländische Fernsehen die charismatischen Starphilosophen Michel Foucault und Noam Chomsky zum TV-Duell. Gerahmt von aufklärerischem Vermittlungseifer verhandeln die Kontrahenten ihre Leitgedanken zum Wesen der „menschlichen Natur“: Welchen Einfluss kann der Mensch auf seine eigene Geschichte nehmen und kann individuelles Handeln zu politischen Änderungen führen?
Der brasilianische Bildhauer und Autor Nuno Ramos bringt nun zusammen mit einem international renommierten Musik- und Performance-Ensemble die legendäre Debatte erneut auf die Bühne und spitzt ihre moderate Grundsituation eklatant zu. Mit ihrem Wissen um das Scheitern solidarischer Proteste, kritischer Machtdiskurse und emanzipatorischer Visionen mischt sich die mythologische Seherin Kassandra vehement in das Ereignis ein.
Wieder und wieder erklingen ihre letzten Rufe in der Vertonung des griechischen Komponisten Iannis Xenakis. Vokal- und Perkussionskaskaden aus dem Werk überlagern, zersetzen und öffnen das monolithische Rededuell zwischen Chomsky und Foucault. Eine szenische Klanglandschaft entsteht, voll lustvollem Spott, existenzieller Klage und leidenschaftlicher Empathie.
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Dauer: 70 Min.
Sprache: Deutsch, Englisch, Französisch
Am 15.9. Einführung um 19.30 Uhr und Gespräch im Anschluss
Mousonturm-Produktion
Beteiligte und Förderer
Von und mit: Nuno Ramos, Diego Ramos, Julia Mihály, Yuka Ohta, Miljenko Turk, Leo Hofmann, Dorsey Bushnell, Sandra Li Maennel S., Hendrik Borowski, Mathias Rieker
Ein Projekt des Künstlerhaus Mousonturm in Kooperation mit der Alten Oper Frankfurt im Rahmen des Musikfests „Eroica“. Gefördert vom Musikfonds e. V. mit Projektmitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.
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Getrommelte Philosophie
von Michael Laages
Spaßeshalber nehmen wir mal an, dass das heute denkbar wäre – dass, sagen wir mal, Richard David Precht und Peter Sloterdijk zur besten Fernsehsendezeit die Argumente wie die Klingen kreuzen dürften. Ob so eine Debatte Chancen hätte im Einheitsbrei der Schwatz-und-Schwafel-Strategien in den Talkshows von Anne Will abwärts? 1971 und in Holland war das möglich – Michel Foucault und Noam Chomsky philosophierten auf der Mattscheibe mit-, gegen- und manchmal auch bloß nebeneinander über „Die menschliche Natur“ und (im Untertitel der niederländischen TV-Macher) sogar über die „ideale Gesellschaft“. Das wirkt mit beinahe fünf Jahrzehnten Abstand derart absurd und aus der Zeit gefallen, dass wohl nur ein ähnlich weit entfernt agierender Künstler sich dieser kulturhistorischen Kostbarkeit annähern kann: Der Brasilianer Nuno Ramos hat als materialgewaltiger Maler und Bildhauer, Autor, Filme- und Performance- Macher über bald vier Jahrzehnte hinweg die Bildende Kunst in Südamerika entscheidend geprägt. Nun kreiert er für den Mousonturm eine Art Reenactment der historischen Debatte. Die Uraufführung dieses vom Musikfonds geförderten Kooperationsprojekts mit der Alten Oper findet im September im Rahmen des Musikfests zu Beethovens „Eroica“ statt.
Der aus São Paulo stammende Ramos unterlegt dem historischen Dokument Musik von furioser, gewaltiger Kraft: die „Kassandra“-Komposition des griechischen Modernisten Iannis Xenakis. Klang und Stimmen gehen ineinander über – die Tonhöhen der kontrastierenden Monologe finden sich wieder im Sound der Installation, und der Schlagzeuger trommelt Foucault. Diego Ramos, ein spanischstämmiger Namensvetter des Brasilianers, Geiger und Komponist und in Offenbach zu Hause, hat die Partitur so aufbereitet, dass sie „die Melodie der Sprache“ kenntlich macht. Auf ihrer Grundlage sorgt das nicht minder kontrastreiche, fünfköpfige Ensemble dann im offenen Bühnenraum dafür, dass in der Wiederbegegnung, die Stimmen von Chomsky und Foucault mit der „Kassandra“ von Xenakis verschmelzen können.
Entstanden ist dieses kurios-verstörende Projekt aus Ratlosigkeit – als Nuno Ramos nach Jahren wieder nach Frankfurt kam, habe er sich „völlig verloren“ gefühlt. Zu Akira Takayamas städteübergreifendem „Evakuieren!“-Projekt hatte er 2014 einen Lichtkreis aus Straßenlaternen an der Honsellbrücke beigesteuert. Jetzt, so bekennt er im Gespräch, habe er überhaupt nicht gewusst, wohin die neue Reise gehen soll – daheim in Brasilien habe sich gerade alles wie in einem teuflischen Sog auf den neuen Faschismus des Pseudo-Politikers Jair Bolsonaro zubewegt. Sehr klar also war alles daheim – wer noch Hirn zum Denken hatte, konnte nur gegen diesen Alptraum sein. Aber hier, im friedlich-gemütlichen Europa? Beim ersten Residenz- Aufenthalt in Frankfurt fehlte noch jede Idee – deshalb trägt das Ramos- Projekt auch jetzt noch, da es einen starken Kern bekommen hat, den offensiv unpräzisen Untertitel „To whom it may concern“. Wer erreicht wird vom philosophischen Diskurs über Epochen hinweg, der ist wohl gemeint.
Die Erinnerung an den medialen Philosophie-Gipfel von 1971 hat dem Gast aus Brasilien den entscheidenden Impuls und die Richtung gegeben. Immerhin habe er ja selber mal Philosophie studiert – und schon damals sei es ihm einigermaßen absurd vorgekommen, zum Beispiel das Wesen menschlicher Natur möglichst verbindlich dingfest machen zu wollen. Genau darauf aber sind die Meisterdenker von 1971 aus, in grandioser welterklärerischer Naivität: Wenn nur intelligent und ausführlich genug geredet werden könne über letzte und vorletzte Dinge, dann sei die Welt womöglich doch zu verbessern. Ein bisschen wirken die beiden Größen wie Laurel und Hardy, und sie philosophieren auf der „Titanic“ …
Auch damals, im Paläozoikum des Fernsehens, galten natürlich schon gewisse mediale Regeln – in regelmäßigen Abständen mischt sich ein Moderator ein; allerdings ohne das Gespräch tatsächlich zu unterbrechen. Foucault und Chomsky reden im Hintergrund weiter, während der Mann vom Sender dazwischen grätscht und zusammenfasst, was bisher geschah. Den „fliegenden Holländer“ hat Nuno Ramos diesen Denkbild-Erklärer getauft – und wird auch dessen Auftritte mit inszenieren.
Überhaupt soll möglichst viel vom schrägen Charme vergangener Zeit erhalten bleiben, auch im Bild und im Raum. Aber dezent mischt sich auch die vergangene Zeit ein – die Szenerie verwandelt sich zum verlassenen Garten, in dem es fleißig wuchert und die Natur sich zurück nimmt, was ihr über die Jahrzehnte hinweg genommen wurde.
Über den Sommer hatte Nuno Ramos eine Ausstellung in Zürich, daheim in São Paulo kann er derzeit noch über Atelier und Galerie verfügen; aber die Arbeitsräume schrumpfen auch für einen Künstler wie ihn. Letzte Reste kultureller Förderung werden eingesammelt von der rechtsradikalen Bundesregierung, die Kunst an sich wird als Feindin betrachtet – „und auch die, die Kunst kaufen“, sagt Ramos, „haben ja Bolsonaro gewählt.“ Und doch ist der Brasilianer nicht ohne Hoffnung – aus all den Verlusten, aus der blanken Angst ums Überleben, wachse auch neue, kreative Energie. Vielleicht.