Höchste Zeit zu feiern: Vor 25 Jahren begann das – zunächst rein weibliche – Theaterkollektiv She She Pop damit, den hochdynamischen Kunstorganismus der Performance um ureigene Spielarten zu bereichern. Doch statt der eigenen rücken die weltweit tourenden Berlinerinnen und Berliner mit „Kanon“ jene Werke anderer Künstler und Denkerinnen ins Zentrum einer Revue, die ihre Arbeit in all den Jahren entscheidend geprägt und beeinflusst haben. Als ein Reenactment von erlebten Momenten der Performance wird diese Feier der Erinnerung im Hier und Jetzt von She She Pop konzipiert, gerahmt und gestaltet. Ausgewählte Überraschungsgäste aus der freien Performance-Szene sind eingeladen, die Revue um eigene Beitrage zu bereichern. So betreibt „Kanon“ in einer kollektiven Andacht Geschichtsschreibung und die „Kanonisierung“ der Performance mit all den Mitteln der Flüchtigkeit, die diese Kunstform selbst hervorgebracht hat.
Infos
Dauer: 120 Min.
Sprache: Deutsch
Uraufführung der Frankfurter Fassung
Mousonturm-Koproduktion
Beteiligte und Förderer
Von und mit: Sebastian Bark, Johanna Freiburg, Fanni Halmburger, Lisa Lucassen, Mieke Matzke, Ilia Papatheodorou, Berit Stumpf
Gastperformance Frankfurt: Irene Klein, Joana Tischkau, Leander Ripchinsky
Kostüme und Requistien: Lea Søvsø
Lichtdesign: Michael Lentner
Sounddesign: Jeff McGrory
Bühne: Sandra Fox
Choreografien: erinnert und neu interpretiert von Constanza Macras
Künstlerische Mitarbeit: Valeria Germain, Alisa Tretau, Laia Ribera
Mitarbeit Kostüm: Jana Donis
Mitarbeit Choreografie: Miki Shoji
Hospitanz: Magdalena Hofmann, Natasha Borenko
Technische Leitung: Sven Nichterlein
Produktionsleitung: Anne Brammen
PR, Kommunikation: ehrliche arbeit - freies Kulturbüro
Freie Mitarbeit Kommunikation: Tina Ebert
Finanzadministration: Aminata Oelßner
Company Management: Elke Weber
Eine Produktion von She She Pop in Koproduktion mit HAU Hebbel am Ufer Berlin, Kampnagel Hamburg, Künstlerhaus Mousonturm, FFT Düsseldorf und Münchner Kammerspiele. Gefördert durch die Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa und den Hauptstadtkulturfonds Berlin. Gefördert durch die Freunde und Förderer des Mousonturms e.V.
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Hintergrund
Wer von Liebe reden, jene Worte mit den seltsamen Eigenschaften der Vergegenwärtigung aussprechen will, muss stets in der Gegenwartsform, im Heute sprechen, und da die Gegenwart sich von der Vergangenheit unterscheidet, muss das neue Sprechen, soll es neu vernommen werden, sich von dem alten Sprechen unterscheiden. Anders gesagt, es gibt kein wirklich erlösendes Wort, das man schon einmal gehört hat. (Bruno Latour, Jubilieren)
Performance und Gedächtnis: 1993 sahen einige Mitglieder von She She Pop die Performance BIOGRAPHY von Marina Abramović am TAT in Frankfurt/Main, die sie zu ihrer ersten eigenen Arbeit auf der Probebühne am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen inspirierte. BIOGRAPHY war eine Chronik in Bildern von Abramovićs eigenen Performances. Zwölf Jahre später inszenierte sie am New Yorker Guggenheim Museum SEVEN EASY PIECES, eine siebentägige Aufführung sechs historischer Performances anderer Künstler*innen (und eine ihrer eigenen) aus den 1960er und 1970er Jahren. 2018 zeigte Abramović in der Bundeskunsthalle Bonn Wiederaufführungen einiger ihrer legendär gewordenen Performances, u. a. ART MUST BE BEAUTIFUL, ARTIST MUST BE BEAUTIFUL von 1975.
Viele Arbeiten von Performance-Künstler*innen, auf die sich She She Pop heute als Inspiration beziehen, sind uns nur zugänglich geworden durch frühe Bild- und Video-Dokumentationen (letztere oft in sehr schlechter Qualität). Unsere eigenen Arbeiten lassen wir heute mit hohem technischem und planerischen Aufwand aufzeichnen und investieren danach viel Zeit und Geld in die Erstellung einer guten Video-Dokumentation – für die Nachwelt, denn das ist das, was bleibt. Den Reichtum der gemeinschaftlichen Erfahrung in der Aufführung kann jedoch auch eine gute Dokumentation kaum wiedergeben. Sie ist ein ungenügendes Surrogat, sie reizt oder berührt uns selten, wenn sie nicht ergänzt wird durch die direkte und emphatische Berichterstattung einer Zeitzeugin des Geschehens, ergänzt durch die akute Erinnerung von jemandem, der anwesend war! Die Zeitzeugin oder Erzählerin hat natürlich immer eine eigene Agenda, die nicht identisch ist mit derjenigen der Autorin des Original-Kunstwerks. In jedem Fall wird das Original in der Erzählung mit dieser neuen Agenda überschrieben. Wir, die wir zu jung waren um dabei gewesen zu sein, erinnern uns an – oder besser: wir gedenken - der Performances von Vito Acconci oder Valie Export, obwohl wir sie nicht gesehen haben, weil sie uns lebhaft erzählt und diese Erinnerung von der Erzählerin als bedeutsam empfunden wurde, weil diese Erzählung wiederum für uns zur Performance wurde (zum Beispiel in einem Hörsaal) und dadurch Bedeutung gewann.
Theater als Gedächtnisraum:
Hans-Thies Lehmann spricht vom Theater als einem Gedächtnisraum. "Theater hat es mit Gedächtnis zu tun", schreibt er, von dem wiederum die Idee von Verpflichtung unablösbar sei: "Jedes Jetzt, das von sich weiß, dass es Spuren seiner Herkunft aufweist, findet sich in seinen guten wie schlechten Zügen als Glied einer Kette, ohne die es nicht existierte." Dennoch ist nach Lehmann das Theater kein Speicher-Medium. Im Theater entsteht Gedächtnis. In der Verdichtung nämlich von körperlicher Anwesenheit und gemeinsamer Konzentration, in der kollektiven Erwartung von Erfahrung kann die individuelle Erfahrung erst Bedeutung gewinnen und zu individueller Erinnerung werden. Lehmann spricht von einer Jetzt-Zeit des Erinnerns, in der Gedächtnis und Erwartung zusammenfallen. Die Anwesenden haben sich bewusst herausgelöst aus der normalen Raum-Zeit. Sie befinden sich im Theater sozusagen gemeinsam in einem Stellvetreter-Raum, in einer Stellvertreter-Zeit, bereit dafür, sich berühren zu lassen, den Schutz abzulegen, der sie durch den Alltag begleitet. Und diese kollektive Erfahrung ist der Boden, auf dem die individuelle Erinnerung gedeiht.
Eine bedeutsame Handlung, Geste oder Formulierung zu erinnern und - herausgelöst aus ihrem vormaligen Kontext, aber doch in aller Form vor den Augen einer beteiligten Gemeinschaft - zu wiederholen, so beschreibt man ein Ritual. Kanon ist ein Erinnerungsritual. Aber in der Wiederholung und Überschreibung von Werken und Szenen aus der Vergangenheit muss es gelingen, den Aufführungsmoment zu betonen, der Beziehung zwischen Künstler*innen und Publikum eine akute Bedeutung zu geben. Die Performance Kanon muss also Gedächtnisraum sein und nicht Museum. Kanon fragt nach der Funktion des Theaters, nach seiner Bedeutung für die Einzelne oder den Einzelnen, nach seiner Bedeutung für die Aufführungsgemeinschaft und damit auch stellvertretend für die Gesellschaft. Warum kommen wir immer wieder in diesem Raum zusammen, den wir Theater nennen? Was suchen wir?