Fri. 04.08.2017

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

während sich Parteien und Volk um die besten Plätze in der politischen Mitte drängeln, fragen wir uns: Wo sind sie hin, die hetzenden Proteste, diskriminierenden Kampagnen und banalisierenden Parolen? Zum Start der neuen Saison widmen sich internationale Ensembles und Solisten den Strategien, diskreten Fluchtrouten und subkutanen Tum-melplätzen des Populismus. Vier Wochen lang provozieren sie von der Bühne aus oder im öffentlichen Raum unser politisches und theoretisches Differenzierungsvermögen, untersuchen die Verführungskraft extremer Radikalisierung, fordern neue Formen der Solidarität, beschimpfen den Populismus in uns allen oder wagen endlich das Unmögliche: Kunst, die wirklich allen gefällt!

Den Anfang macht das Medien- und Performancekollektiv LIGNA. 2017 mit dem George Tabori Preis ausgezeichnet, analysiert es seit vielen Jahren die Mechaniken und Dynamiken von Gruppen- und Massenbewegungen. Gemeinsam mit den bulgarischen Künstlern Stephan Shtereff und Emilian Gatsov forschen sie nach Ursachen für die Attraktivität autoritärer Fundamentalpolitik und radikaler Vergemeinschaftung und bringen in Rausch und Zorn. Studien zum autoritären Charakter  (Uraufführung 31.8.-2.9., 20 Uhr, 3.9., 18 Uhr, Mousonturm-Koproduktion) historische Konstellationen, Theorien und Analysen zur Sprache. Dabei vergegenwärtigen sie aktuelle Entwicklungen, indem sie das Publikum selbst zum zentralen Akteur eines Ereignisses werden lassen.

Am 1.9., ab 19 Uhr laden wir Sie nach dem Empfang mit Kulturdezernentin Ina Hartwig herzlich zur großen Welcome BACK!-Party inklusive Konzert des Hamburger Schwabinggrad Ballett & Arrivati-All-Star-DJ-Team feat. Heinz, Argumentepanzer, Mu Mushkila und Basso Profundo zum Start ins neue Theater-, Tanz- und Performancejahr im Turm, das Spannendes  bietet:

Die heiße Phase des Bundestagswahlkampfs ruft auch das Frankfurter Kollektiv
red park gegen Populisten auf den Plan. Die Tugend obsessiven Schimpfens und fun-damentaler Erkenntnisgewinn durch dreiste Pöbelei bleiben nicht länger Privileg der An-deren. Über drei Wochen lädt red park zum Dissens, zu Selbstversuchen und Mei-nungsmache. Am Nachmittag der Bundestagswahl spitzt sich dann alles in der Populistenbeschimpfung zu (Uraufführung 24.9., 16-22 Uhr, Mousonturm-Koproduktion). In den kollektiven Formaten zuvor kann man sich darauf vorbereiten: Das Bootcamp Schulung in Tugenden des Schimpfens und der Schelte (2.9., 16 Uhr Mousonturm) erobert die Stadt mit Prozessionen und Verstärkern, Populistenbeschimpfungsstammtische mit ausgewiesenen und selbsternannten Experten treffen sich unter dem Motto Wasserhäuschentheorie (4./ 11./ 18.9., 19.30 Uhr) zwischen Konsum, Krawall und Meinungsmache zum offenen Gesprächsformat an ausgewählten Wasserhäuschen in der Stadt. Genaue Ortsangaben ab 1.9. auf www.mousonturm.de.

Scheitern als Chance! Tausende folgten bei der Bundestagswahl 1998 Christoph
Schlingensiefs Parolen und stimmten für seine neu gegründete Partei Chance 2000.
Selten waren sich Theater und Wirklichkeit so nah. Der im Juni 2017 uraufgeführte Film Chance 2000 – Abschied von Deutschland  basiert auf bisher weitgehend unveröffentlichtem Material und zeigt so herrliche Wahlkampfhöhepunkte wie den Versuch, durch ein Massenbad von Arbeitslosen den Wolfgangsee zum Überlaufen zu bringen. Im Anschluss an die Filmpräsentation diskutieren u.a. der ehemalige Volksbühnendramaturg und Chance 2000-Mitbegründer Carl Hegemann, der hessische Chance 2000-Vorkämpfer Alexander Karschnia (andcompany& Co.) und Matthias Pees, ebenfalls Chance 2000-Aktivist und nun künstlerischer Leiter des Mousonturms, über Strategien und Praxis der Partei und ihre bis heute spürbaren Nachwirkungen (6.9., 20 Uhr).

In ihren Arbeiten befasst sich das Kollektiv ongoing project mit Avantgarde-, Klassen-, Staats- und Performancetheorie. Ihr Projekt Kolleg zur Wiederentdeckung des Klassenbewusstseins (Uraufführung 12.-14.9., 20 Uhr) startete als Gesprächsreihe mit Menschen unterschiedlicher sozialer Positionen. Ob sich die Forderungen von Fabrikarbeiterinnen und Fabrikarbeitern, Selbständigen, Geflüchteten, Arbeitslosen, Prostituierten und im Haushalt Arbeitenden auch als gemeinsames Interesse formulieren lassen, wird nun in einem Audioessay mit praktischen Anweisungen und Reflexionen zum Klassenbewusstsein erfahrbar.

Rituale sind für Daniel Cremer, Autor, Regisseur, Performancekünstler und 2015 Preisträger der Frankfurter Autorenstiftung, geradezu eine Aufforderung, sie zu dekonstruieren: Mit dem Komponist und Pianist Vincent Stefan nimmt er nun den bürgerlichen Liederabend auseinander, mixt rahmensprengend Kunstlied, Musical, elektronische Musik, Tombola, Singkreis, Modern Dance, Sehnsucht und Séance, und will mit diesem Abend alle (!) glücklich machen. (16.-18.9., 20 Uhr, Uraufführung im Rahmen des Musikfestes, eine Produktion des Künstlerhaus Mousonturm in Kooperation mit der Alten Oper Frankfurt).

Der in Cannes für seine poetisch-politischen Filme prämierte Regisseur und Autor Kornél Mundruczó lässt in seiner konzertanten und filmisch-theatralen Inszenierung die krasse Realität ungarischer Flüchtlingslager auf Schuberts Winterreise  (19. & 20.9. Frankfurt LAB) prallen. Der Sänger János Szemenyei und das Ensemble Neue Musik der HfMDK Frankfurt sind die Interpreten von Hans Zenders zupackender Bearbeitung. Vor Mundruczós dokumentarischen Videosequenzen aus ungarischen Flüchtlingslagern entsteht eine bildmächtige Inszenierung, die die die existenzielle Erfahrung von Flucht in der alptraumhaften Realität unserer Tage wie auch in Schuberts Liedern offenlegt.

Seit ihrem Protest-Auftritt 2012 in der Moskauer Christus-Erlöser-Kathedrale sind die feministischen, regierungs- und kirchenkritischen Politaktivistinnen Pussy Riot weltbe-kannt. Ihr Theaterprojekt RIOT DAYS, das wir als Erstaufführung im deutschsprachigen Raum zeigen (20. & 21.9.), folgt Maria Alyokhinas gleichnamigem Buch. Es schildert sowohl ihre eigene Geschichte als Performerin als auch die Verhaftung, den Prozess und Aufenthalt im sibirischen Gefangenenlager der Pussy Riot-Aktivistinnen bis hin zu ihrer Entlassung.


Five Easy Pieces (8.& 9., 19 Uhr,10.9., 15 Uhr, ALL IN ab 15 Jahre), das beeindruckende Stück von Milo Rau, dem mit seinen Arbeiten stets Aufsehen erregenden Regisseur, Theaterautor, Journalist und Begründer des International Institute of Political Murder (IIPM), kommt endlich in den Mousonturm. In seiner vielfach ausgezeichneten Inszenierung sind es belgische Schulkinder, die sowohl das gesellschaftliche Tabu und Schweigen über die Verbrechen des Kindermörders Marc Dutroux brechen, als auch Spuren belgischer Kolonialgeschichte im Kongo folgen.

Schon ihre international gefeierte Produktion Germinal stieß 2016 auf Begeisterung. Nun zeigen wir das neue theatrale Experiment Wir überqueren die Brücke erst, wenn wir sie erreicht haben (On traversera le pont une fois rendus à la rivière)  (Deutsche Erstaufführung 27.& 28.9., Mousonturm-Koproduktion) von L’Amicale de production (Antoine Defoort / Julien Fournet / Mathilde Maillard / Sébastien Vial). Ein Teil des Publikums erlebt sie im Theatersaal, ein anderer hört sie zu Hause im Radio. Egal, wo man sich befindet, wird man zum Komplizen und Beobachter von drei Nerds, die sich nebst Lagerfeuer und Mobilfunk mit diversen Kommunikationstechnologien beschäftigen und dabei in einer spielerischen Schnitzeljagd eine spannende Dynamik zwischen Individuum und Gruppe erzeugen.

Wie vielschichtig und kontrovers die Verbindung zwischen klassischem Ballett und Walt Disneys Popkultur sind, fokussiert Eisa Jocson, eine der innovativsten Choreografinnen Südostasiens, mit fünf Tänzerinnen und Tänzern des Ballet Philippines in ihrer neuen, vom Mousonturm produzierten und bislang größten Ensemblearbeit Your Highness (10. & 11.9., 19.30 Uhr Frankfurt LAB). Sie thematisiert darin die Verbindungen zwischen Prinzessinnen-Archetypen des Balletts und jenen der globalisierten Unterhaltungsindustrie und formt daraus ein faszinierendes Tanzstück, das vor kurzem in Manila zur Uraufführung kam.

Mit einer präzisen, humvorvoll-lakonischen Darbietung letztes Jahr im Rahmen von The Greatest Show on Earth beeindruckte Emmilou Rößling und ist jetzt mit einer eigenen Arbeit, Cascade  (Uraufführung 29. & 30.9., 19 Uhr), am Mousonturm zu sehen, einem Tanz, der sich scheinbar ziellos umherbewegt, wächst und, wie eine Pflanze das Licht zur Photosynthese unsere Blicke braucht und doch mit unserer Wahrnehmung spielt.

Canan Ereks Arbeit Green Moves ist das zweite im Rahmen der Tanzplattform Rhein-Main produzierte Ensemble Mobil, ein Format, in dem Tanzschaffende Stücke jenseits konventioneller Theaterräume erarbeiten. Erek setzt sich darin mit Natürlichkeit und der Hinwendung zur Natur auseinander, die in einer sich zunehmend in Metropolen verdichtenden Welt gerade dort boomt. Mit ihrer Choreografie durchwandert Erek verschiedene Parks, nimmt das Publikum auf diese Spaziergänge mit und stiftet dort so eine neue Raumerfahrung. (10.–17.9., Eigenproduktion von Mousonturm und Hessischem Staatsballett, verschiedene Orte im Rhein-Main-Gebiet, Orte und Zeiten ab 1.9. auf www.tanzplattformrheinmain.de und www.mousonturm.de).


KONZERTE

Die musikalische Vielfalt der Mitglieder des Bossier Quartets (5.9., 20 Uhr) (Klarinette, Bratsche, Akkordeon, Kontrabass), die aus namhaften Klangkörpern, dem Lucerne Festival Orchestra, dem Mahler Chamber Orchestra, dem WDR Sinfonieorchester und dem Ensemble Modern stammen, ist ihre Stärke. Traditionelle Folklore, Klassik und experimentelle Formen treffen sich in den emotional mitreißenden Kompositionen des Klarinettisten Jaan Bossier, die an diesem Abend vom Gesang der Flamenco-Sängerin Amparo Cortés gekrönt werden.

Mit ihrer charismatischen Stimme trifft die aus den USA stammende Sängerin Michelle Blythe exakt den kraftvollen Sound der amerikanischen 50er- und 60er-Jahre und des frühen britischen Beats. Den einen oder anderen Soul-,Country- und Bluesklassiker – in eigener Version – haben Clambake (15.9., 21 Uhr) natürlich auch im Gepäck!


Neu im Mousonturm

Gregor Praml, Kontrabassist, Komponist  und Musikredakteur, lädt ab September einmal im Monat sonntags zur Jazz-Matinee und Konzert-Talk-Reihe The LOKAL Listener ins Lokal des Mousonturms und stellt Musiker und Musikerinnen der lokalen Szene im entspannten Gespräch persönlich vor. Und natürlich wird dabei auch gespielt, und nicht zu wenig!

Zum Auftakt trifft Gregor Praml den 2017 mit dem renommierten Frankfurter Jazzstipen-dium ausgezeichneten Gitarristen Max Clouth. Nach dem Studium der Jazzgitarre in Deutschland führte ihn die intensive Auseinandersetzung mit der klassischen indischen Musik zu Studien nach Mumbai. Seine mit einem Gitarrenbauer entwickelte Lotus Gitar-re, eine einzigartige Mischung aus Akustikgitarre, Sitar und Oud, ist neben seinem hochvirtuosen E-Gitarren-Spiel Max Clouths Markenzeichen (17.9., 11 Uhr).


Eva Demski schreibt in ihrem neuen Buch Den Koffer trag ich selber. Erinnerungen (Buchpremiere, 7.9., 20 Uhr) vom Sterben ihrer Eltern, ihres Mannes, von Abschieden von Freunden und Wegbegleitern, berührend und mit der ihr eigenen spöttischen Zärtlichkeit. Am Ende hält man ein Totenbuch in der Hand, doch auch viel mehr, nämlich eine Chronik der letzten siebzig Jahre zwischen Kriegsende, Deutschem Herbst und Wiedervereinigung bis in die Gegenwart.

Matthias Beltz (1945-2002) war einer der klarsichtigsten und der gnadenloseste Kabarettist dieser Republik. Seit der Ära der Studentenbewegung war ihm Frankfurt über Jahrzehnte hinweg Lebensmittelpunkt und Inspirationsheimat. Christiane Meyer-Thoss, Beltz‘ Witwe, Agentin, Nachlassverwalterin und Kennerin seines Werkes, hat aus seinen Untertreibungen ein neues Programm zusammengestellt und bringt Beltz mit „Ausgewählte Untertreibungen – Vol. 2“ Ein neuer Leseabend mit Texten von Matthias Beltz (11.9., 20 Uhr), die Christoph Pütthoff (Schauspiel Frankfurt) liest, an den Mousonturm, seine alte Wirkungsstätte, zurück.

Was ein harmloser Flirt hätte sein können, mündet in einen Gewaltausbruch. Wie in seinem Weltbestseller Das Ende von Eddy beschränkt sich Édouard Louis in seinem neuen Werk Im Herzen der Gewalt  jedoch nicht auf persönlich Erlebtes, sondern dringt tief in die Strukturen der französischen Gesellschaft. Er schildert Gewalt und ihre Ursachen in einem Land, durch das sich tiefe Gräben ziehen (20.9., 21 Uhr, Moderation, Übersetzung, Lesung der dt. Texte: Hinrich Schmidt-Henkel).

Wir freuen uns auf‘s Wiedersehen und auf Ihre Akkreditierungen, sind für weitere Fragen gern für Sie da und nehmen Ihre Interviewwünsche gern entgegen!


Herzliche Grüße

Künstlerhaus Mousonturm

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