Fúria (Wut)

Lia Rodrigues Companhia de Danças

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Fúria (Wut)

Lia Rodrigues Companhia de Danças

Like an ancient horde the nine dancers slip out of their camp and flock together into a single long, dark procession of a wild and elusive mass. Quaking and grasping bodies that seem to dehumanize themselves and grab, prepare and control each other in constantly changing triumphal or funeral marches. With her rousing Companhia de Danças Lia Rodrigues has found a highly intense, movingly dystopic image for the acute threat to the achievements of humanism and universality, the consequences of the coarsening of society around the world and neo-fascism in Brazil. The company’s rehearsal and training centre is in Maré, one of Rio de Janeiro’s toughest favelas: here too Latin America’s leading choreographer makes a consistent stand against racism and social segregation. Lia Rodrigues, most recently seen at the Mousonturm with “For the Sky Not to Fall” (2016), uses stirring engagement and her considerable skill to transform contemporary dance into a poetic and compelling body politics. With her decision to move her company’s rehearsal centre to Maré, one of the toughest favelas in Rio de Janeiro, Lia Rodrigues, one of Brazil’s leading choreographers, made a political and artistic stand against racism and social segregation. The new production of this most important contemporary choreographer of Brazil is deeply influenced by the extreme conditions of of the context in which it was created. In ‘Fúria’ the choreographer addresses the theme of difference with a rousing ensemble of nine. The piece transforms the theatre into a fragile utopian world in which the dancers are a wild gang, then an autonomous organism or a collection of remarkable individuals. Their bodies beat and scream, they grasp, snuggle and cling together. Lia Rodrigues, whose last work ‘For the Sky Not to Fall’ was shown in 2016 as part of ‘Projeto Brasil’ at the Mousonturm, is the true master of a “body-political” dance.

 

Infos

Premiere in the German-speaking area
Mousonturm-Coproduction
German Premiere as part of the Frankfurter Positionen 2019
Choreography: Lia Rodrigues
Dance: Leonardo Nunes, Felipe Vian, Clara Cavalcanti, Carolina Repetto, Valentina Fittipaldi, Andrey Silva, Karoll Silva, Larissa Lima, Ricardo Xavier

Eine Produktion von Théâtre National de Chaillot, mit Unterstützung der Fondation d’entreprise Hermès im Rahmen des Programms New Settings. Koproduziert von Lia Rodrigues Companhia de Danças, Festival d’Automne, Centquatre Paris, MA scène-nationale Pays-de-Montbéliard, Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt am Main im Rahmen des Festivals „Frankfurter Positionen 2019” - eine Intitiative der BHF-Bank-Stiftung -, Kunstenfestivaldesarts (Bruxelles), Teatro Municipal do Porto, Festival DDD - Dias da Dança, Theater Freiburg, Muffatwerk München und durch Unterstützung des Redes da Maré e Centro de Artes da Maré. Lia Rodrigues ist Artiste associée am Théâtre national de Chaillot und am Centquatre Paris.

Frankfurter Positionen 2019 ist eine Initiative der BHF BANK Stiftung. Das Netzwerk der Frankfurter Positionen 2019: BHF-BANK-Stiftung, Deutsches Theater Berlin, Ensemble Modern, Frankfurt LAB, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main, Institut für Sozialforschung (IfS), Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique (Ircam), Kaserne Basel, Künstlerhaus Mousonturm, MMK Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main, Schauspiel Frankfurt, Schauspiel Stuttgart, S. Fischer Verlag, Städelschule/Portikus, Verlag der Autoren, Medienpartner hr2-kultur.

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Das Wüten in der Welt

Seit 15 Jahren arbeitet die Lia Rodrigues Companhia de Danças, eine der berühmtesten Tanzkompanien Brasiliens, in der Favela Maré in Rio de Janeiro. Als Erstaufführung im deutschsprachigen Raum eröffnet ihr neues Stück „Fúria“ die Frankfurter Positionen 2019 im Mousonturm.

VON MATTHIAS PEES

Langsam schälen sich die Kreaturen aus ihren Lagern. Aus Säcken, Planen, Fetzen, Müll. Und Erinnerungsstücken. An einer alten Fahne des Fußballvereins Grêmio Porto Alegre richtet sich ein gekrümmter, aber noch ganz junger Mensch sehr langsam auf und schafft schließlich erste Schritte heraus aus der Ecke, hinein in den Bühnenraum. Andere folgen, bekleiden sich mit den abfallartigen Hinterlassenschaften, werfen sich damit in Schale, als wären es königliche Gewänder, und versammeln sich peu à peu an der Rampe, oder rotten sich vielmehr zusammen: zu einer Art kreisenden Prozession der Körper, einem tatsächlich immer furioseren Trauer- und Triumphmarsch, der sich fast eine Stunde lang entfesselt, der bebend und wippend in Trance zu geraten scheint, angefeuert von einem markerschütternden, zunächst ohren- und irgendwann gesamtbetäubenden Gewitter hunderter Trommeln und heiserer Rufe. Die Tänzerinnen und Tänzer greifen einander an die Haut und in die Haare, ins Fleisch und in die Weichteile, heben sich kopfüber hoch wie frische Beutestücke oder reiten aufeinander wie auf Streitwagen. Dominanz und Unterwerfung,Rausch und Ekstase, Hingabe und Verausgabung, „Verwilderung“ und Zähmung sind nur einige der wiederkehrenden Motive, die diese große und immer größere Gruppen-, ja Massenbewegung prägen.

„Fúria“, Wut, nennt Lia Rodrigues ihre neueste Choreografie, die als Werkauftrag der Frankfurter Positionen im Probenzentrum ihrer Kompanie in Maré entstand, Ende November beim Festival d’Automne in Paris uraufgeführt wurde und am 24. Januar nun das „Festival für neue Werke“ im Mousonturm eröffnet, der die Arbeit koproduziert hat. „Wir haben entschieden, nur mit dem Material zu arbeiten, das schon da war“, beschreibt die Choreografin den Ausgangspunkt des Stücks. „Alte Plastiktüten, Matratzen, eine Fahne. Wie verwandeln wir diese Überbleibsel in etwas unermesslich Wertvolles? Und das nicht im kunsthandwerklichen Sinne, sondern als eine Art ökologisches und auch ökonomisches Prinzip, als Wiederverwertung von allem.“ Ein zweiter Ausgangspunkt war ein großes Wandbild im Probenraum, für das die Mitwirkenden der Produktion viele Fotos sammelten und collagierten, aus der Umgebung, der Favela, dem Rest des Landes und der Welt. Viele davon sind schockierende Zeugnisse der alltäglichen Gewalt.

Maré ist mit über 130.000 Einwohnern eine der größten Favelas Rio de Janeiros und aufgrund ihrer Lage direkt an der Autobahn zwischen dem internationalen Flughafen und dem Stadtzentrum auch eine der sichtbarsten. 2004 begann Lia Rodrigues hier mit ihrer Kompanie auf Einladung und mit Unterstützung der Selbsthilfe-Organisation „Redes da Maré“ projektweise zu arbeiten. Die Gruppe machte ein leerstehendes Lagerhaus am Rand der Favela ausfindig, renovierte es eigenhändig und eröffnete es 2009 als das Kulturzentrum „Centro de Artes da Maré“. Der Ort ist nicht nur Probenzentrum für die Tänzerinnen und Tänzer der Kompanie, sondern auch Sitz ihrer „Freien Tanzschule“, die sowohl für bis zu 200 Laien gleichzeitig in täglich wechselnden Kursen Tanzangebote macht als auch 15 Jugendliche pro Jahr intensiv auf eine professionelle Tanzausbildung vorbereitet. Viele von ihnen haben den Sprung geschafft, sind etwa bei der renommierten Tanzschule P.A.R.T.S. in Brüssel angenommen worden. „Auch wenn die Teilnehmer von hier sich oftmals mit dem Vorurteil konfrontiert sehen, niemals echte Künstler sein zu können“, sagt Lia Rodrigues.

Die 1956 in São Paulo geborene Choreografin hat zunächst klassisches Ballett gelernt und außerdem Geschichte studiert, bevor sie sich dem zeitgenössischen Tanz zuwandte und Anfang der 1980er Jahre bei Maguy Marin in Frankreich tanzte. 1990 gründete sie in Rio ihre eigene Tanzkompanie, 1992 das Tanzfestival „Panorama da Dança“, bis heute das wichtigste in Südamerika, das sie 14 Jahre lang leitete. „Wie den Anderen sehen?“: Das sei die zentrale Frage in all ihren Projekten gewesen. „Doch wir Künstler kennen uns alle, haben die gleichen Bücher gelesen. So schaffen wir keine Veränderung. Ich bin sehr privilegiert, kann in Europa arbeiten. In die Favela zu gehen war eine persönliche und eine künstlerische Vorgehensweise. Denn beim Panorama-Festival war die andauernde Frage für mich: Warum tanzen wir? Für wen? Wenn das Publikum immer dasselbe ist. Ich wollte einen Dialog zwischen der zeitgenössischen Kunst und einem sozialen Projekt. Das war meine Ausgangsidee. Eine Antwort habe ich noch nicht.“

Die Kunst als soziale Transformation zu verstehen hat der künstlerischen Konsequenz, der Originalität und Qualität der Lia Rodrigues Companhia de Danças keinen Abbruch getan – im Gegenteil. Zuletzt zeugte davon die auf indigene Ursprünge und Weltbilder Brasiliens bezugnehmende Trilogie „ Pororoca“, „Pindorama“ und „Para que o céu não caia“ (For The Sky Not to Fall), deren beiden letzte Teile in den vergangenen Jahren auch im Mousonturm zu sehen waren. Die neue Produktion scheint hingegen deutlich auch eine Reaktion auf den massiven Rechtsruck in Brasilien, den neuen Faschismus und die Wahl Jair Bolsonaros zum Staatspräsidenten zu sein. „Wir wollten einen Bogen schlagen zwischen etwas sehr Archaischem und den Dingen, die sich heute abspielen“, kommentiert Lia Rodrigues. „Bolsonaro autorisiert das Schlimmste und Schlechteste im Menschen. Zu töten, zu hassen, alles andere zu hassen. Dem Anderen zuhören, den Anderen verstehen: all das ist ausgelöscht.“ Jedoch sei „Fúria“ zwar in einem für Brasilien sehr spezifischen historischen Moment entstanden, erzähle aber von einer Situation, „die schon immer da war und noch immer da ist. Brasilien war und ist ein extrem ungleiches Land, rassistisch und homophob, ein Land, in dem sich die meisten Morde auf der Welt ereignen, 63.000 pro Jahr. Wir haben selbst erlebt, wie vor unserem Kulturzentrum ein Schüler aus einem Helikopter heraus erschossen wurde. Er trug Bücher im Arm.“ Auch der Mord an der schwarzen Stadträtin und Bürgerrechtsaktivistin Marielle Franco in Rio sei seit zehn Monaten nicht aufgeklärt. „Die Wut ist außerhalb des Stücks, sie ist die Realität, die Welt, die viel wütender ist als das Stück selbst.“ Es ist deshalb gar nicht so leicht zu sagen, ob „Fúria“ eher wie ein Blick in barbarische Vorzeiten wirkt, wie eine postzivilisatorische Zukunftsvision oder als schonungslose Gegenwartsanalyse. Jedenfalls habe die Arbeit in der Favela ihre Wahrnehmung der Realität völlig verändert, meint Lia Rodrigues. „Als Blick nach vorne beschreibt das Stück vielleicht eine Dystopie, als Blick zurück aber auch ein Trauma. Wir haben die Diktatur nicht verarbeitet. Das äußert sich bis heute. Die Milizen, der Mord an Marielle. Die Armee im Innern. Unser neuer Vizepräsident ist ein General. Der neue Präsident nennt die Folterer der Diktaturzeit Helden.“

 

Der Aufstieg der Rechten sei aber ein weltweites Phänomen, auch ein europäisches, ein Phänomen des Neoliberalismus. Die Wahl Bolsonaros habe zudem gezeigt, was man mit sozialen Netzwerken, mit WhatsApp und Fake News anrichten kann. „Insofern warne ich euch Europäer: das kommt auch zu euch. Und Brasilien ist auch ein Echo auf die politische Situation in anderen Ländern.“ Denn der universelle Humanismus und die Solidarität seien keine europäische Erfindung, „im Gegenteil. Europa hat nicht alles geschaffen, ist welthistorisch auch barbarisch gewesen. Diese Ideen sollten wir lieber unter Blickwinkeln betrachten, wie sie etwa bei den Indios entwickelt wurden.“ Sie selbst sei weiß und Mittelklasse, mit entsprechend eurozentristischem Weltbild. Weitergebracht – und damit zu „Fúria“ maßgeblich inspiriert – hätten sie zuletzt etwa die Lektüre von Achille Mbembe („Kritik der schwarzen Vernunft“, „Politik der Feindschaft“), die Begegnung mit der portugiesischen Autorin Grada Kilomba in Frankfurt und der Besuch der afro-brasilianischen Autorin Conceição Evaristo im Centro de Artes da Maré. Von Evaristo stammt auch der Schlusstext im Stück, den der Tänzer Leonardo Nunes vorträgt, wenn der Triumphmarsch in sich zusammengebrochen ist, vor Erschöpfung oder als Atempause vor noch Monströserem. Mit einem Stück Stoff vor dem Gesicht läuft er quer durch den Saal, redet in verschiedenen Sprachen und Dialekten – und bleibt damit so unverstanden, dass das Pariser Uraufführungspublikum sich gleich beschwerte. Doch Lia Rodrigues erklärt, warum sie zum Schluss bewusst an solche Grenzen der Verständigung stoßen wollte: „Leon hatte diese Idee, er gehört der Candomblé-Religion an und hat den Text ausgewählt, ihm seine Stimme gegeben. Mir gefällt dieser Schluss unseres Stückes gerade deshalb, weil die Leute ihn nicht verstehen. Wie neu ankommende Migranten. Da musst du auch erstmal einen Teil von dir selbst öffnen, um mit dem Anderen zu kommunizieren.“