Mo. 11.05.2015

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

die kritische Auseinandersetzung mit der Kulturrevolution ist in der chinesischen Öffentlichkeit immer noch ein Tabu. Dieses durchbrechen die ehemalige Pina Bausch-Tänzerin und Chore-ografin Wen Hui und der Dokumentarfilmer Wu Wenguang mit ihrem 1994 in Beijing gegrün-deten Living Dance Studio, der ersten unabhängigen zeitgenössischen Tanz-Kompanie in der Volksrepublik China, und ihrem grandiosen Gesamtkunstwerk Memory (an Himmelfahrt, 14.5., von 15.00 bis 23.00 Uhr, Chinesisch mit deutschen Übertiteln; durchgehend Einlass und Bewirtung). Die Arbeit wirft in Form einer durational performance, die man sowohl aus-schnittweise als auch in voller Länge erleben kann, auf mehreren Ebenen Blicke zurück in die Vergangenheit: Während draußen die Kulturrevolution tobte, wurde in Wen Huis Kinderzimmer das Moskitonetz zum Theatervorhang, ihr Bett zur Bühne und die Familie zum Tanzpublikum. Im Mousonturm sind die Bewegungen von damals nun zeitlupenhaft verdeutlicht, wird das ins Gigantische vergrößerte Netz zur Projektionsfläche für die Stimmen fünf ehemaliger Rotgardisten aus Wu Wenguangs außerordentlich bewegendem, achtstündigen Dokumentar-film Meine Zeit bei der Roten Garde (Chinesisch mit deutschen Untertiteln). Im Sog der Bilder und Bekenntnisse entsteht eine unauflösbare Spannung zwischen persönlicher Erinnerung, Zeitzeugenschaft, im Rückblick aufkommenden Zweifeln – und Tränen der Scham.

Die katastrophalen Folgen der unter Mao betriebenen landwirtschaftlichen Kollektivierung enthüllt das dokumentarische Folk Memory Project (15.5., 19.00 Uhr, In Englisch), für das Wen Hui und Wu Wenguang 20 junge Mitglieder des Living Dance Studio in die Dörfer ihrer Familien sandten, um dort Zeitzeugen der Großen Hungersnot der Jahre 1959-1961, die zwi-schen 15 und 45 Millionen Tote forderte, vor der Kamera zu befragen. Die Arbeit am Folk Memory Project stellt Wu Wenguang persönlich im Gespräch und anhand von Filmausschnit-ten im Mousonturm vor.

Die beiden aus diesem Material bislang hervorgegangenen Bühnenwerke Listening to 3rd Grandmother’s Stories (28.8.) und Memory II: Hunger (3.9.) wird der Mousonturm im Rah-men des Internationalen Tanzfestivals und Sommerlabors TOGETHER FOREVER – Dance,
Performers, Politics zeigen.

Die Faszination hingegen, die der Maoismus Ende der 60er Jahre auf westliche Intellektuelle und Künstler ausübte, analysierte der Publizist und Historiker Gerd Koenen, der damals an der Spitze der Frankfurter maoistischen Parteizelle stand, später in dem Klassiker Das rote Jahrzehnt – Unsere kleine Deutsche Kulturrevolution 1967-1977. In seiner Lecture Mao in Frankfurt (13.5., 10.00 Uhr im Lokal des Mousonturms) reflektiert er noch einmal die Anzie-hungskraft des damaligen revolutionären Exotismus.

—> download 150511_Pressemitteilung_-_Living_Dance_Studio.pdf