
Esra Küçük/Arpana Aischa Berndt/Laura Paetau/Julia Korbik
Empathy beyond the limits of the nation-state
Lokal im Mousonturm
Discussion
- 07.09.2019, 6 p.m.Admission free
Filmmaker Maryam Zaree (“Born in Evim”), Anti-Racism-Trainer Arpana Aischa Berndt, dramaturge Laura Paetau and Esra Küçük, Managing Director of the Allianz Cultural Foundation, discuss transnational European protest movements, and how to establish new alliances across borders, while social gaps are growing wider and wider within Europe and are driving people apart.
Language: German
Cast & Credits
With: Maryam Zaree (Autorin, Filmemacherin), Esra Kücük (Geschäftsführerin der Allianz Kulturstiftung), Arpana Aischa Berndt (Autorin und Anti-Rassismus-Trainerin) and Laura Paetau (Kuratorin, Dramaturgin und Autorin)
Moderation: Julia Korbik (Journalistin und Publizistin)
The festival „Unfuck my future. How to live together in Europe” is funded within the framework of the Alliance of International Production Houses by the Federal Government Commissioner for Culture and the Media of Germany as well as the Federal Agency for Civic Education.


Biography
Esra Küçük
Esra Küçük, ehemals im Direktorium des Berliner Maxim Gorki Theaters ist Geschäftsführerin der Allianz Kulturstiftung. Esra Küçük, geboren 1983 in Hamburg als Tochter eines türkischen Vaters und einer mazedonischen Mutter, ist diplomierte Sozialwissenschaftlerin. Sie absolvierte ein deutsch-französisches Doppeldiplom an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und am Institut d’Études Politiques (Sciences Po) in Frankreich. Stiftungserfahrungen erwarb sie als Trainee bei der in Essen ansässigen Mercator Stiftung und im Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Sie initiierte und leitete das deutschlandweite Bildungsprogramm “Junge Islam Konferenz” (ab 2010), ein Dialogforum für Muslime und Nicht-Muslime im Alter von 17 bis 24 Jahren (biographische Informationen aus in dem Band: “Was ich Dir immer schon mal sagen wollte. Ost-West-Gespräche” von Markus Decker, Berlin: Ch. Links Verlag 2015). Als Direktoriumsmitglied des Gorki Theaters leitet Küçük das Gorki Forum. Das Capital Magazin kürte sie 2016 zum Teil der “Jungen Elite” (einer Auswahl von vierzig Führungspersonen unter 40 Jahren, die das Magazin seit 2007 alljährlich vornimmt).
Biography
Arpana Aischa Berndt
Arpana Aischa Berndt ist Autorin und Anti-Rassismus-Trainerin. Sie schreibt über ihre Rassismuserfahrungen als Woman of Color in Deutschland, gibt Workshops und hält Vorträge über rassimuskritisches Denken, Allyship und machtkritischem Schreiben. In verschiedenen Projekten und Arbeiten beschäftigt sie sich mit intersektionalem Feminismus und kritisiert die bestehenden rassistischen Verhältnisse. “Das sind Themen, die mich interessieren und noch lange beschäftigen werden, deshalb nehme ich die in alle Projekte mit, die ich mache“, sagt Arpana, die gerade ihr Studium in Kreativem Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim beendet.Sie schreibt Essays und Kurzgeschichten und ist Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift BELLA triste.
Biography
Laura Paetau
Laura Paetau bewegt sich mit ihren Projekten zwischen Theorie, Performance und Politik. Sie arbeitet als Kuratorin, Dramaturgin und Autorin zu queer-feministischen und post-migrantischen Themen und Formen. Zuletzt kuratierte sie das performative Labor Intercultural Processes & Art: the Next Level am Ballhaus Naunynstraße und sie ist die Dramaturgin der Frutas Afrodisíacas, eine Koproduktion des Studio Я und Ballhaus Naunynstraße. Bis 2016 war sie Stipendiatin des Internationalen Graduiertenkollegs Entre Espacios / Zwischen Räumen am Lateinamerika-Institut. Gemeinsam mit dem (heidy) Kollektiv kuratierte sie die Ausstellung What is queer today is not queer tomorrow in der nGbK (2014). Sie ist Ko-Autorin des Buches Feminismen und Neue Politische Generation (Westfälisches Dampfboot 2009) und lehrte zu feministischen Interventionen in Pop-Musik und -Kultur an der Freien Universität Berlin und Humboldt Universität zu Berlin. Ab der Spielzeit 2019/20 arbeitet sie in der Dramaturgie des Schauspiel Zürich.
Biography
Julia Korbik
Julia Korbik wurde 1988 im Ruhrgebiet geboren und lebt heute als freie Journalistin und Autorin in Berlin. Sie schreibt vor allem über Popkultur und Politik aus feministischer Sicht. Korbik hat in Deutschland und Frankreich Politikwissenschaft, Kommunikationswissenschaft und Journalismus studiert. 2014 erschien “Stand Up. Feminismus für Anfänger und Fortgeschrittene”, 2017 “Oh, Simone! Warum wir Beauvoir wiederentdecken sollten”. Korbik ist nicht nur überzeugte Feministin, sondern auch überzeugte Europäerin: Mit dem Team von cafebabel.com zeigt sie, wie junge Leute Europa täglich leben.
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Institutionalisierte Regelbrüche
Von Esra Küçük, Feray Halil, Nino Klingler
Wir schreiben das Jahr 2019. In Italien, immerhin ein Gründungsmitglied der Europäischen Union, wird eine Kapitänin verhaftet, weil sie Geflüchtete vor dem Ertrinken rettet. In Ungarn wird die Open Society Foundation aus dem Land gehetzt. In der Türkei wird lebenslange Haft für den Kulturstiftungschef Osman Kavala gefordert, nach eineinhalb Jahren im Hochsicherheitstrakt wird ihm der Prozess gemacht. Gleichzeitig werden Künstlerkollektive in Deutschland vom Verfassungsschutz überwacht, und eine demokratisch gewählte Partei fragt neuerdings die Nationalitäten von Theatermitarbeiterinnen und -mitarbeitern ab. Shrinking spaces, die Erfahrung, dass kulturelle (Frei-) Räume immer enger werden, ist ein Fakt. Auch hier in Deutschland.
Inmitten dieser dystopisch anmutenden Gemengelage erleben wir zur gleichen Zeit Protestbewegungen, die sich auf den Weg machen: Fridays for Future mischt die Klimadebatte auf. Eine EU-Gesetzesnovelle zum Urheberrecht treibt die Jugend mit den devices in den public space. Eine immer größer werdende Initiative von Künstlerinnen und Künstlern unter dem Titel „Die Vielen“ protestiert mit glänzenden Fahnen für mehr Toleranz und Kunstfreiheit. Rezo sowie andere Akteure und Akteurinnen aus dem Youtube- und Blog-Umfeld verwirren die Parteienlandschaft. Die oft beschworene „Straße“ ist physisch wie virtuell wieder sichtbar. Man hat den Eindruck, ihre Anliegen speisen sich aus der Zukunft. Sie wollen die Aufgabe alter Gewohnheiten und die notwendige Umgestaltung politischer, gesellschaftlicher und kultureller Verhältnisse, um den Herausforderungen von morgen mit den Mitteln von übermorgen zu begegnen – und zwar heute.
Ganz zentral geht es auch um einen Generationenkonflikt. Und dabei steht viel auf dem Spiel: All jene, die die Politik Europas maßgeblich durch Ämter, Einfluss und Stimmen entscheiden, können irreparablen Schaden anrichten und Zukunftsperspektiven verbauen. In deutlicher Weise kam diese Bruchlinie beim Brexit-Referendum zum Vorschein, einem Prozess, in dem ältere Generationen die jüngeren überstimmt und den EU-Austritt Großbritanniens entschieden haben.
Sollte man also die Alten nicht mehr wählen lassen, wie es die Satiriker von Die Partei jüngst mit ihrer „Letztwähler- Kampagne“ forderten? Eine Problemlage wird durch solche Provokationen zumindest sichtbar. In der Tat bleibt die Frage: Wer kümmert sich wirklich um die Belange zukünftiger Generationen, die meist jenseits der Institutionen formuliert werden? Politiker sind nur für wenige Jahre gewählt und planen deshalb oft nur bis zum nächsten Wahlkampf. Es ist spannend, zu beobachten, dass der Protest diesmal nicht aus den Hochschulen hervor ging. Studierende fungierten lange als Radar für gesellschaftliche Missstände und formten oftmals die Speerspitze für deren Überwindung. Heute übernehmen diese Rolle Schülerinnen und Schüler, Youtuberinnen und Youtuber und informelle Kollektive.
Die Proteste entwickeln sich also in einem Feld fern der klassischen institutionalisierten Zivilgesellschaft, zu der auch Stiftungen gehören, die Ressourcen und Kapazitäten für längerfristiges Engagement hätten. Doch solche Institutionen tun sich bisher schwer im Umgang mit jungen, nicht-institutionalisierten zivilgesellschaftlichen Akteuren. Woran liegt das?
Jeder wahrhaft bewegende Protest trägt in sich ein disruptives Element, das sich schwerlich institutionalisieren lässt. Erst als die Schülerinnen und Schüler freitags die Schule schwänzten, hörte man ihnen zu. Der Regelbruch muss empörend bleiben, damit er wirkt, damit man sich daran reibt, damit man merkt, dass etwas auf dem Spiel steht. Arbeitet der institutionalisierte Sektor auch an einem Äquivalent? Oder haben wir – also: die, die wir in Kulturinstitutionen und Stiftungen arbeiten und wirken – da etwas verschlafen? Wie können wir die Impulse aus dem nicht-institutionalisierten Raum besser aufnehmen und in unsere Wirkungsfelder übertragen?
Wir Stiftungsvertreterinnen und -vertreter der institutionalisierten Zivilgesellschaft müssen sehen, dass wir nicht nur – und das bleibt essenziell – im doppelten Sinne alte Räume liberaler Freiheiten verteidigen, also zu konservieren versuchen. Wir müssen vielmehr auch neue zivile Streiträume erschließen. Wir sollten zukünftig Bewahrung und Disruption zusammen denken können, sollten Neues anbieten und zugleich Altes verteidigen, um den tiefgreifenden Wandel, der unsere Gesellschaften ergriffen hat, adäquat zu unterstützen. Wir brauchen einen neuen Mut zur Irritation, der mit diesen Prozessen einhergeht.
Das fängt bei einer kritischen Selbstüberprüfung an, die jede Institution für sich leisten muss. Für die Arbeit einer gemeinnützigen Stiftung heißt das zum Beispiel konkret: Wie können wir Antragsprozesse für die Sprache und Techniken der Anliegen von morgen öffnen? Wie können wir die, die wir erreichen wollen, auch an den Entscheidungsprozessen teilhaben lassen? Wie können wir den Regelbruch institutionalisieren? Wie mutig müssen wir dabei sein? Was sagen diejenigen über uns aus, die in unseren Programmen und unserem Denken überhaupt nicht vorkommen?
Aktuell denken wir darüber nach. Und das macht Spaß. Denn Dinge sind in Bewegung, die uns dazu auffordern, über unsere Ziele als Gesellschaft zu streiten. Nur so können wir gemeinsam Zukunft formulieren.
Esra Küçük gehörte zur Direktion des Maxim Gorki Theaters Berlin und gründete die Junge Islam Konferenz. Seit einem Jahr ist sie Geschäftsführerin der Allianz Kulturstiftung, bei der die Theaterwissenschaftlerin und Dramaturgin Feray Halil und der Filmemacher und -kritiker Nino Klingler als Projektleiter Darstellende und Bildende Kunst tätig sind.